Das Tao der Transformation

In letzter Zeit habe ich – teilweise gemeinsam mit wunderbaren Kolleg:innen – mehrere Texte und Konzepte geteilt, die sich „spannungsreich“ mit dem Thema Organisationskultur und Transformation auseinandersetzen.

Gemeinsam mit Liane Stephan habe ich im Konzept des New Work Radicalism dargestellt, wie auf den ersten Blick unvereinbare Positionen zusammengedacht werden müssen, um mit einem neuen Narrativ der lebensdienlichen Wirtschaft von Grund auf anders erfolgreich zu sein. Ökonomischer Erfolg und Lebensdienlichkeit, Effizienz und Wertschätzung, Zahl und Mensch – diese Pole sind nicht konkurrierende Gegensätze, sondern gegengelagerte Pfeiler eines Spannungsfelds, in dem Unternehmen sich produktiv verorten und bewegen können. In diesem Feld geht es nicht darum, eine Mittelposition der Balance zu finden, sondern die ganze Spielwiese der Möglichkeiten auszunutzen und aus der Spannung Energie nach vorne zu entwickeln.

In gleicher Weise bietet der New Work Explorer, den ich gemeinsam mit Christian Fust entwickelt habe, eine dynamische Sicht auf das Feld Organisationskultur an: Das Werkzeug beschreibt und nutzt für die Kulturanalyse fünf Kernkulturen, die (je nach Unternehmen aber auch je nach Situation, Phase, Reifegrad) in Organisationskulturen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sind und sich gegenseitig anziehen und abstoßen, bedingen und herausfordern. Ähnliches habe ich auf Teamebene als Grund-Wirksamkeiten beschrieben.

Im letzten Blogtext der Transformationsarchitekten haben wir über die two swings der Kulturtransformation reflektiert: der erste Aufschwung der Initiative hinein in die neue Kultur muss durch Sinnstiftung, Inspiration und Beteiligung freiheitlich Enthusiasmus erzeugen. Der zweite Aufschwung, muss gegengelagert durch Routinen, Ausdauer und Reflexion zur Nachhaltigkeit des Kulturwandels disziplinieren. Beide Schwünge bedürfen eines sichernden Rahmens des Vertrauens, um Wirksamkeit entfalten zu können.

Als Transformationsarchitekten haben Christian Fust und ich auch eine Reihe von Ansätzen (etwa für Transformationsdesign und -steuerung, Führung und Teamempowerment oder Teamentwicklung) und auch konkrete Tools entwickelt, die einen orientierenden und sichernden Rahmen vorgeben, ohne dass sie den Nutzer:innen die autonome Freiheit der Selbstorganisation innerhalb der gezogenen Grenzen nehmen. In einem früheren Blogtext habe ich Organisations- und Kulturentwickler:innen als Raumhalter:innen porträtiert, die genau so handeln: Sie etablieren eine Struktur ohne den Freiraum zu begrenzen. Im post-agilen oder ambidextren Unternehmen bleibt ihnen wohl auch keine andere Wahl als so zu agieren…

Implizit vereint diese aus unterschiedlichen Richtungen ansetzenden Perspektiven eine gemeinsame Grundhaltung – wie mir vor Kurzem bei der erneuten Lektüre von Hans-Georg Möllers tiefem Buch In der Mitte des Kreises: Daoistisches Denken klar wurde: Sie versuchen alle das Tao der Transformation zu beschreiben. Transformation im Fluss würden die ehrwürdigen Weisen des alten Chinas als dao („rechter Weg“, „Grundprinzip“) zu greifen suchen; das fruchtbare Agieren in zwischen Polen oszillierenden Spannungsfeldern würden sie durch yin und yang skizzieren; das indirekte, Selbstorganisation gewährende Agieren über Rahmensetzung könnten sie als wu wei („produktives Nichthandeln“) beschreiben. Ungefähr zur selben Zeit, in der Sunzi mit seiner Kunst des Krieges das erste agile Manifest verfasste (;-)) und in gleicher Weise wie tribale Gesellschaften eine tiefe Tribagility kultivier(t)en, so beschrieben die Taoisten Laozi und Zhuangzi in ihren Weisheitsbüchern vor Jahrtausenden essentielle Grundpfeiler einer erfolgreichen Unternehmens- und Transformationsgestaltung.

Bei meinem letzten Aufenthalt in China erzählte mir ein junger Programmierer, dass er in den 64 Hexagrammen des bis ins 3. Jahrtausend v.u.Z. zurückreichenden Orakelbuchs Yijing nach Ansätzen für die Lösung von aktuellen Big Data-Herausforderungen suche. Ich möchte hier zehn Zitate aus dem daoistischen Klassiker Daodejing versammeln – verbunden mit der Einladung zur Reflexion. Auf den ersten Blick mögen die Weisheiten vielleicht hanebüchen oder auch verwirrend erscheinen. Ich bin jedoch überzeugt, dass sie uns wichtige Hinweise auf ein hochaktuelles und tiefgreifend agiles Tao der Transformation geben.

Was können diese 2500 Jahre alten Worte uns für die Transformation von Unternehmen hin zu True New Work und lebensdienlicher Wirtschaft lehren?

 

Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt.

Dinge wahrzunehmen ist der Keim der Intelligenz.

Der Weise achtet auf das Wort eines einfachen Menschen.

Das Regieren großer Staaten sei wie das Braten kleiner Fische.

Das Weiche besiegt das Harte, das Schwache triumphiert über das Starke. (…) Gewalt zerbricht an sich selbst.

Der Schutz des Allerzerbrechlichsten ist das Geheimnis der Stärke.

Ton knetend formt man Gefäße. Doch erst ihr Hohlraum, das Nichts, ermöglicht die Füllung.

Geborenwerden heißt, zu sterben anfangen.

Nur jene wissen das Leben wahrlich zu schätzen, die nichts tun, es zu stören.

Im Nichtstun bleibt nichts ungetan.

 

Johannes Ries