Mensch und Organisation sind komplex – sie verdienen eine ganzheitliche Betrachtung

>> »Ethnologie« – das Wort verbindet man erst einmal nicht mit modernen Organisationen, sondern assoziiert es mit »Wilden« in der Wüste, »Primitiven« in abgelegenen Hochtälern oder »Naturvölkern« im Regenwald. Tatsächlich konzentrierte sich die Völkerkunde vor allem auf das Studium schriftloser Völker in archaischen Kontexten. Längst ist die Ethnologie jedoch im Heute angekommen und beschäftigt sich mit aktuellen Themen wie Globalisierung, Diversity oder Gender.

Auch für Organisationen und Unternehmen kann die Ethnologie ihre spezifischen Perspektiven und Methoden nutzen, um wirksame Change-Konzepte zu erstellen. Was in den USA und teilweise in Skandinavien bereits etabliert ist, steckt in Deutschland und Europa noch in den Kinderschuhen: Organisationsethnologie als Beratungsansatz. Was macht jedoch eine organisationsethnologische Herangehensweise an Unternehmen aus?

Ethnologische Kulturkompetenz: Die Wirtschaft hat längst begriffen, welchen essentiellen Einfluss die Unternehmenskultur auf die Performance und den nachhaltigen Erfolg jedes Unternehmens hat. Kultur ist das integrale Konzept der Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden. Die Organisationsethnologie nutzt diese ethnologische Kernkompetenz spezifisch für die Analyse von Unternehmen und für die Erarbeitung von alternativen, organisationskulturspezifischen Konzepten.

Der emische Blick: Ethnologen sind darauf trainiert, von außen kommend in kürzester Zeit den Blick von innen zu rekonstruieren, indem sie den eigenen Herkunftskontext ausblenden und in einer genaue Analyse die formellen und informellen Regeln im Unternehmen »erlernen«. Dabei spielt der Sinn, welchen die Mitarbeiter ihrem Tun beimessen, ein zentrale Rolle. Fragestellungen, mit denen Organisationsethnologen zu Beginn der Analyse ins Unternehmen gehen, gelten grundsätzlich nur als Anfangshypothesen, die im Analyseprozess schnell angepasst (und mitunter auch ganz verworfen) werden, um die für das Unternehmen wirklich gewichtigen Themen zu identifizieren und tatsächlich relevante Fragestellungen zu entwickeln.

Teilnehmende Beobachtung: Zur Analyse nutzt die Organisationsethnologie die genuine Methode der teilnehmenden Beobachtung. In einer Feldforschung führt ein Organisationsethnologe nicht nur offene Interviews, sondern gewinnt ebenfalls durch seine Teilnahme am Organisationsalltag wichtige Eindrücke und Erfahrungen, die er durch Rückfragen kontextualisiert. Durch dieses Wechselspiel zwischen indirekt erfragten und direkt erfahrenen Informationen lernt ein Organisationsethnologe die (unbewussten) Muster und Regeln sowie den ihnen zugrunde liegenden Sinn wirklich zu verstehen.

Ganzheitliche Analyse: Organisationsethnologen konzentrieren sich nicht nur auf die offiziell gezeigte Kultur des Unternehmens (z. B. Leitbild, Regelkommunikation, Organisationsstruktur, Karrieresystem), sondern immer auch auf die informell gelebte Kultur des Unternehmens (z. B. gelebte Werte, informelle Kommunikationsmuster, Netzwerke, Prestigesysteme). Letztere haben – unbewusst – einen enormen Einfluss auf die Performance des Unternehmens. Jede Unternehmenskultur sendet z. B. auch durch Architektur, Dresscode oder Habitus der Mitarbeiter wichtige Informationen über die Werte und Prozesse des Unternehmens. Ein Organisationsethnologe nimmt diese Informationen von Anfang an »mit allen Sinnen« wahr und lässt sie in seine ganzheitliche Interpretation der Unternehmenskultur und Analyse der Organisationspotenziale einfließen.

Kontinuierlicher Perspektivenwechsel: Organisationsethnologen haben durch ihre Ausbildung und durch lange Aufenthalte in fremden Kulturen die Kompetenz aufgebaut, sich in kürzester Zeit in völlig fremden Kontexten schnell zurechtzufinden und die relevanten Spezifika einer (Unternehmens-)Kultur zu identifizieren. Sie haben Routine darin, ständig zwischen »Innen« und »Außen« zu wechseln: Sie können sich mit viel Empathie auf Mitarbeiter und deren Alltag im Unternehmen einlassen und sensibel analysieren, gleichzeitig jedoch schnell wieder distanzieren, um mit dem nötigen Abstand fundierte Interpretationen der Unternehmenskultur zu erstellen.

Analogietransfer: Die Ethnologie kennt kulturelle Systeme, die nach völlig anderen Regeln funktionieren als unsere moderne Gesellschaft. Durch Vergleiche zu kulturellen Konzepten anderer Gesellschaften kann die Ethnologie neue interessante Blickwinkel auf moderne Organisationen werfen. So kann z. B. der Vergleich zu einem Prestigekomplex einer archaischen egalitären Gesellschaft für eine bestimmte Organisation interessante Erklärungsansätze für Probleme im Führungssystem anbieten, die über das offizielle Karrieremodell nicht erklärbar sind. Ethnologische Standardthemen wie Mythos, Ritus oder informelle Führung können in Unternehmen fruchtbar gemacht werden, um neue Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln, die zum Unternehmen und seinen Mitarbeitern genau passen und damit die Performance verbessern.

Kultursensibles Change Management: Mit diesen Perspektive, Methoden und Kernkompetenzen kann die Organisationsethnologie für und in Unternehmen ein kultursensibles Change Management konzipieren. Veränderungsmaßnahmen werden dabei in die bestehende gelebte Kultur des Unternehmens eingebettet: Kulturelle Ressourcen, die eine organisationsethnologische Analyse identifiziert, werden gezielt genutzt, um Veränderungsmaßnahmen abzusichern und zu verstärken. Gleichzeitig werden deutlich gewordene kulturelle Widerstände, an welchen Veränderungsmaßnahmen sehr oft scheitern, bewusst gemacht und ausgeglichen.

Eine organisationsethnologische Beratung und ihr kultursensibles Change Management machen damit eine sinnvolle Veränderung in Unternehmen möglich, die den Unternehmenserfolg nachhaltig steigert.

Zuerst veröffentlicht auf www.synnecta.com/pages/infomail/organisationsethnologie.htm

Johannes Ries