Versuch über eine neue Kunst der Unternehmensführung
>> In den allgemeinen Diskursen über das Phänomen Führung werden mit den englischen Begriffen Management und Leadership unterschiedliche Führungsformen umschrieben. Polemisierend zugespitzt lassen sich der Manager und der Leader als Figuren wie folgt gegenüberstellen:
Der Manager ist voll auf seine Aufgabe fokussiert, die ihm untergebenen Mitarbeiter sieht er als von ihm angeleitete Unterstützer. Die Beziehung zwischen der Führungskraft und dem Mitarbeiter ist geprägt von logisch-rationaler Kommunikation, die sich auf die Sachebene fokussiert und nicht lange bei Emotionalitäten aufhält, um effektiv zu sein. Jegliche Argumentation bezieht sich auf die unmittelbaren Notwendigkeiten, die schnell erkannt und klar definiert werden. Die Ziele, die der Manager von seinem Vorgesetzten erhält, sind sauber zerlegt in Maßnahmen und Aufgabenpakete, detaillierte Projektpläne stellen engmaschig Meilensteine auf.
In dieser Form werden die Ziele ans Team weitergegeben und jeder Mitarbeiter instruiert, was er bis wann mit welchen Mitteln zu tun hat. Dies sorgt für eine überaus klare Orientierung der Mitarbeiter. Über Messgrößen kann der Manager den Zielerreichungsgrad jederzeit kontrollieren und bei Abweichungen vom Plan frühzeitig intervenieren, um Schäden zu vermeiden. Der Manager sieht sich seinem Mitarbeiter gegenüber eindeutig vorgesetzt und nutzt ohne weiteres seine Positionsmacht, wenn er seine Vorstellungen vom Mitarbeiter nicht umgesetzt bekommt. Sein Zeitfokus liegt auf der Gegenwart, es geht ihm vor allem darum, das Geschäft kurzfristig stabil zu halten.
Als Organisationstalent behält der Manager die Übersicht und über Planungs- und Controllingtools das Geschehen in seinem Aufgabengebiet voll im Griff. Seine Aufmerksamkeit kreist um Operationalität und short term wins. Von ihm angestoßene Veränderungen beziehen sich auf evolutionäre, kontinuierliche Verbesserungen des Status quo. Zentral ist die Frage nach dem »Wie?«. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«, sagt sich der Manager und geht noch einmal die Cockpit-Übersicht durch, um sich zu versichern, dass keine Maßnahmenampel auf rot steht.
Die Figur des Leaders folgt einem anderen Diskurs als die des Managers. Der Leader kehrt den letzten Satz des Managers um: Vertrauen geht ihm über Kontrolle. Denn generell generiert der Leader seine Führungs-Kraft nicht allein aus rational-logischen Faktoren. Der Bauch ist ihm nicht minder wichtig wie der Kopf – Intuition und Emotion sind legitime Instanzen seiner Führungsarbeit.
Der Leader befiehlt nicht über Untergebene, sondern geht Anhängern voran, die seinem Charisma folgen. Inspiriert blickt er stets weit in die Zukunft voraus und betrachtet die Gegenwart als Moment vor der Veränderung. Vor revolutionären Umbauten in der Organisation schreckt der Leader nicht zurück, möchte er doch das Unternehmen in seinen Strukturen, Instrumenten und Strategien vor allem zukunftsfähig machen – seine Mitarbeiter müssen voll flexibel sein. Es geht ihm um den langfristig angelegten Erfolg, wofür er auch kurzfristige Widerstände oder Profiteinbußen hinnehmen kann.
Die Ziele, die der Leader zu erreichen sucht, sind klar von einer der Nachhaltigkeit verpflichteten Vision abgeleitet, mit der er sich identifiziert. Die Inspiration, die der Leader aus seiner Vision schöpft, möchte er an seine Mitarbeiter weitergeben, so dass auch sie, voll identifiziert mit und überzeugt von den Werten des Unternehmens, ihre Arbeit in sinnvolles Tun transformieren.
Dem Leader geht es darum, einer Wertegemeinschaft vorzustehen, die einheitlich ausgerichtet und transparent abgestimmt in die gleiche Richtung voranschreitet, an einem Strick zieht, mit einer Stimme spricht – Ausscherende müssen wieder eingefangen werden. In der Kommunikation setzt der Leader auf Bilder und Geschichten, die im Mitarbeiter ein inneres Theater evozieren, das die Alltagsarbeit sinnreich rahmt. Von einem Leader geführt, weiß man, warum man etwas tut.
Der Leader gestaltet Milieus für eine erfolgreiche Arbeit, da er um die Motivationskraft des Umfelds weiß. Seine Mitarbeiter wählt er bewusst entsprechend der zukünftigen Herausforderungen und Erfordernisse aus und hat ein klares Bild von dem Weiterentwicklungspfad jedes seiner Teammitglieder. Seine Aufgabe sieht der Leader im Empowerment der ihm Anvertrauten: er möchte sie befähigen, selbstverantwortlich Unternehmerschaft für das Geschäft zu übernehmen. Letztlich liegt jedoch die Zug- und Aktionskraft in der Persönlichkeit des Leaders – was die Gefahr birgt, dass er doch zum Flaschenhals seines Teams wird. Denn wer reißt die Mannschaft mit sich, wenn der Leader das Team verläßt?
In den gängigen Führungskräfteentwicklungsseminaren herrscht Konsens, dass heute eine Führungskraft nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie sowohl das Organisationstalent und die Autorität des Managers als auch das Charisma und die Authentizität des Leaders in sich vereint und situativ zum Einsatz bringt. Dem widersprechen wir nicht. Wir glauben jedoch, dass es heute in vielen Unternehmen nicht mehr genügt, allein auf diesen zwei Klaviaturen spielen zu können. Aus den Erfahrungen unserer Beratungsarbeit in unterschiedlichsten Unternehmen leiten wir die Hypothese ab, dass erfolgreiche Führungsarbeit heute noch einer dritten Kompetenz bedarf, da die Führungsmodelle von Management und Leadership allein den aktuellen Herausforderungen an die Führungsarbeit nicht mehr voll gerecht werden können.
Führungskräfte sind heute in zunehmendem Maße mit Hybridität konfrontiert. Unternehmen sind im Zuge der Globalisierung multinational geworden, agieren in unterschiedlichen Märkten und bauen in der Belegschaft immer mehr Diversität auf. Gleichzeitig sind die Zukunftslinien immer unschärfer, da die Volatilität der Märkte und die Geschwindigkeit des Geschäfts langfristige Ausrichtungen erschweren.
Hinzu kommt, dass die Generation Y, die derzeit in die unteren Hierarchieebenen der Unternehmen Einzug hält, den Trend weiter bestätigt: sie akzeptiert noch weniger als die ihr vorangegangene Generation X Autoritäten und möchte anders geführt werden als über hierarchische top-down-Kommunikation. Trotz einer postmodernen Grundhaltung des anything goes besteht die Sehnsucht nach Orientierung – jedoch möchte niemand mehr aufoktroyierte Dogmen akzeptieren. Man möchte geführt und trotzdem frei sein.
Die dritte Figur, die wir daher in diesem Essay als zusätzliches Führungsmodell neben Manager und Leader stellen wollen, ist die des Kurators. Dieser soll die Qualitäten von Management und Leadership nicht entwerten, sondern komplettieren. Wir glauben, dass eine Führungskraft, die zusätzlich kuratiert, den oben skizzierten Herausforderungen adäquater begegnen kann.
Die Figur des Kurators entlehnen wir dabei der Kunstwelt. Sowohl etymologisch als auch von der Tätigkeit her war der Kurator lange Zeit vor allem derjenige, der sich gewissenhaft und sorgfältig um die Pflege einer Sammlung oder eines Museums kümmert. Doch seit den 1960er Jahren wurde dieser Typus des Kurators ergänzt um die schillerndere Figur des Ausstellungsmachers – auch »auktorialer Kurator« genannt. Sein Interesse gilt nicht mehr der kontinuierlichen Pflege und Bewahrung der Kunst und der Vermittlung zwischen ihr und dem Betrachter. Vielmehr stellt er neue Bezüge zwischen künstlerischen Arbeiten selbst her und setzt Sammelobjekte, Artefakte oder Kunstwerke in einen neuen Kontext. Der Kurator vermittelt nicht mehr zwischen Kunst und Betrachter, sondern zwischen den Arbeiten und sich selbst… höchst subjektiv, sehr eklektisch und überaus erfolgreich.
Prominentester Vertreter dieses zeitgenössischen Ansatzes des Kuratierens ist vermutlich Hans-Ulrich Obrist, in der Szene kurz HUO genannt, der zu den einflussreichsten Köpfen des Kunstmarktes zählt. Auch die jüngste Dokumenta (2012) belegt, dass die Figur des Kurators eine erstaunliche Karriere vorzuweisen hat: bei der Berichterstattung wurde mehr über die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargievs und ihren Ansatz berichtet als über die ausgestellten Werke oder beteiligten Künstler. Zumindest in der Kunstwelt scheint die Rolle, wie sie HUO und Kolleginnen ausfüllen, die geeignete Antwort auf den Bedarf und die Sehnsucht nach subjektiven und inspirierenden Filtern angesichts einer komplexen und unübersichtlich erscheinenden Welt zu sein.
Längst hat jedoch der Kurator als Funktion die Kunstwelt verlassen. Beinahe schon inflationär wird heute kuratiert: Amüsiert berichtet die Süddeutsche Zeitung 2011 von kuratierten Speisekarten oder kuratierten Produktsortimenten und stellt die These auf, dass die Metapher des Kuratierens das Sampeln des DJs der 1990er Jahre ersetzten wird. Blickt man allerdings ins Netz 2.0, so ist Kuratieren hier nicht nur eine hippe Metapher, sondern eine ersehnte Komplexitätsreduktion.
Kuratierte Formate wie Blogs oder Amazon-Bücherlisten erleichtern den überforderten Datenkonsumenten die Orientierung in der (digitalen) Welt. Doch beim Kuratieren geht es nicht nur um Informationsreduktion, sondern gleichzeitig auch um eine Öffnung von neuen Räumen und das Knüpfen neuer Verbindungen. Ein gutes Beispiel dafür ist Pinterest, die am schnellsten wachsende Plattform im Netz und riesige Kuratier-Maschine. Auf Pinterest wird nichts Neues produziert, stattdessen werden existierende Bilder auf digitalen Pinnwänden gesammelt, gefiltert, geordnet, kommentiert und neu zusammengestellt. Durch den subjektiven Akt des »Pinnens« entstehen neugeschaffene Verbindungen, Querverweise und Inspirationen für die Follower. Einige Pinterest-Kuratoren sind dabei so erfolgreich, dass ihre bis zu zwei Millionen Follower jeden Zeitungsmacher erblassen lässt.
Transferiert man den Kurator aus der Kunst-, Kultur- und Netzwelt in den Unternehmenskontext und gesellt ihn zu Manager und Leader, so könnte seine Figur folgendermaßen aussehen: Wo sich Manager und Leader in Gegenwart und Zukunft zeitlich klar verorten, zielt die Arbeit des Kurators auf Zeitlosigkeit ab. Dem Kurator geht es weder um Stabilität noch um Veränderung, sondern vor allem um eine aktuelle Neukonstellation, die nur temporären Geltungsanspruch hat.
Der Kurator will überraschen und verblüffen, nicht instruieren oder mitreißen. Zweckdenken ist bei ihm weniger erkennbar als bei Manager und Leader, vielmehr ist sein Tun dem Spiel verpflichtet. Seine Argumentation verlässt sich allein auf die Attraktivität der Botschaft, die er in seine Netzwerke einspeist, wo sie sich schnell wuchernd vermehren soll. Wo der Manager auf das »Wie?« und der Leader auf das »Warum?« antworten, proklamiert der Kurator, ohne gefragt zu werden: »Ich mache es so!« Unterschwellig schiebt er ein »Macht ihr was ihr wollt!« hinterher – jedoch nicht, weil es ihm egal wäre, was die anderen tun, sondern weil ihm die (Entscheidungs-)Freiheit der anderen ein unantastbares Gut ist.
Es ist diese Haltung, die den Kurator als Führungsfigur für all jene attraktiv macht, die eigentlich nicht geführt werden wollen, denen der Manager zu langweilig ist und die dem Leader nicht trauen. Der Kurator sagt nicht, wo es lang geht, sondern bietet Wahrnehmungsraster und Filter an, die alternative Wege aufzeigen. Er spricht Einladungen aus, die idealiter so attraktiv sind, dass sie nicht abgelehnt werden können. Wo Positionsmacht bzw. Charisma den Manager bzw. Leader vertikal und hierarchisch über den Mitarbeiter stellen, reklamiert der Kurator horizontal und aus der Mitte heraus Deutungshoheit und lässt allein die Macht des von ihm ausgewählten Inhalts wirken.
Zur Sachebene des Managers gesellt der Leader den Emotionsbereich – der Kurator erkennt zusätzlich die Wirkkraft der Ästhetik. Affekt ersetzt in seiner Arbeit Logik und Intuition. Anstelle von Kontrolle und Empowerment wird auf Verführung (im positiven Sinne) und das Lustprinzip gesetzt. Das wichtigste Gut des Kurators ist der Freiraum, ohne den er nicht arbeiten kann und den er allen anderen zugesteht. In diesem ist der Kurator offen für Widersprüche und Paradoxien – mitunter produziert er sie sogar (bewusst) selbst. Damit ist er der Experte im Umgang mit Vielfalt und Differenz und bestens gewappnet, hybriden Unternehmensrealitäten zu begegnen und in ihnen handlungsfähig zu bleiben.
Wir plädieren nicht dafür, dass jede Führungskraft zum reinen Kurator werden muss, um erfolgreich zu sein! Auch weiterhin sind die Qualitäten des Managers und des Leaders wichtige Führungskompetenzen. Allerdings sind wir überzeugt, dass die Figur des Kurators das Führungsrepertoire, das jede Führungskraft nutzen kann, sinnvoll erweitert. Es wird für uns ein spannender nächster Schritt sein, Führungskräfte zu begleiten, die sich auf diese neue Grundhaltung einlassen, der Denkfigur des Kurators Leben einhauchen und für erste Praxisbeispiele aus dem Wirtschaftskontext sorgen werden.
Zuerst auf www.blog.synnecta.com/die-figur-des-kurators.
Johannes Ries & Anja Kulik